9. Erneuerbare Lesetage – 2021
„Die Niederlage des rationalen Menschen“ (S. Alexijewitsch)
Auch im pandemisch bestimmten Lockdown – als sonst alles abgesagt wurde – feiert Hamburgs unabhängiges Festival, mit vier Dutzend Autoren und Künstlern aus und in aller Welt: Kultur für alle.
Hybrid: Auf der Bühne in der Akademie der Künste und per Video-Livestream kamen hochrangige Akteure wie Japans Ex-Premier Naoto Kan, UN-Botschafter Nils Melzer, Ex-Club-of-Rome-Generalsekretär Graeme Maxton, Großbritanniens ‚Königlicher Astronom‘ Lord Martin Rees, Bundesjustizministerin a. D. Herta Däubler-Gmelin oder Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando mit Bestseller-Autoren wie Behrouz Boochani, Günter Wallraff, Donatella Di Cesare oder Dennis Meadows, Aktivisten um Seenotretterin Pia Klemp und Waldbesetzerin Hanna Poddig und TV-Stars wie Barbara Auer, Renan Demirkan, Michel Abdollahi, Mariele Millowitsch und Sebastian Bezzel zusammen.
Begleitend zum Festival hat ›Lesen ohne Atomstrom‹ ein Buch herausgegeben, das auch als Hörbuch erschienen ist: „Act now!“
8.2. – Tag 1
Final Century? – Zeit für die Revolte!
Donatella Di Cesare, Dennis L. Meadows, Lord Martin Rees, Ole von Uexküll, Barbara Auer
Drei der weltweit renommiertesten Intellektuellen haben mit dem Direktor des Alternativen Nobelpreises, Ole von Uexküll, und TV-Star Barbara Auer die ‚9. Erneuerbaren Lesetage‘ eröffnet – und sich klar positioniert. So fordert der Astrophysiker und ‚Königliche Astronom‘ Großbritannienes, Lord Martin Rees: „Wir brauchen eine andere Politik, eine neue Politik.“ US-Forscherlegende Dennis Meadows sieht 50 Jahre nach seiner die Welt aufrüttelnden Analyse ›Die Grenzen des Wachstums‹ keinen Grund zum Feiern – und prognostiziert: „Existenzielle Probleme werden dieses Jahrhundert bestimmen.“ Er adelt wie die italienische Philosophin Donatella Di Cesare jene Aktivisten, die Veränderungen zu erzwingen versuchen – die „neuen Ungehorsamen“, die nicht kleinteilige Verbesserungen anstreben, sondern vielmehr „das politische System in Frage stellen“.
Übersetzung: Astrid Geese
9.2. – Tag 2
Io sono persona – Die Grenzen niederreißen
Leoluca Orlando, Tima Kurdi, Pia Klemp, Emily Laquer, Rolf Becker
Hinter den Kulissen in der Akademie der Künste wurden die Augen feucht, bleierne Stille – als Tima Kurdi von ihrem Familienschicksal berichtete: wie ihre zwei und vier Jahre alten Neffen und ihre Schwägerin an der EU-Grenze vor Griechenland ertranken. Dort, wo heute die hochgerüstete EU-Miliz ‚Frontex‘ Jagd auf die Gehetzten und Erschöpften macht – um sie ins Meer zurückzustoßen. Und die deren Retter, wie Pia Klemp, die Tausende Menschen aus dem Wasser zog, gnadenlos verfolgt: „Frontex ist der größte Verbrecher“, so Klemp, gegen die in Italien als Schlepperin ermittelt wird. „Die Geschichtsbücher der Zukunft werden zeigen, wer kriminell ist“, prophezeit der weltberühmte Anti-Mafia-Kämpfer und Bürgermeister Palermos, Leoluca Orlando: „Die Kriminellen sind die Staaten, die heutigen Staatsführer.“ Und gegen die gilt es aufzustehen, fordert Tima Kurdi: „Wir müssen lauter werden, wir haben die Macht.“
Übersetzung: Astrid Geese und Carola Dinklage
10.2. – Tag 3
Der Sieg des rationalen Menschen – Von der Mafia- zur Kulturmetropole
Leoluca Orlando & Wolf Gaudlitz
Ein Kinoabend, der den Sieg der Bürger Palermos über die Mafia, die Entwicklung der sizilianischen Metropole zur Kulturhauptstadt würdigt – mündet im Aufruf zum Widerstand gegen die Atommafia: Die hat soeben einen Nationalpark in Sizilien zum Lager für radioaktiven Abfall auserkoren – und dabei Anti-Mafia Kämpfer Leoluca Orlando zum Gegner. Der Bürgermeister Palermos enthüllt mit dem deutschen Regisseur Wolf Gaudlitz nach dem Dokumentarfilm ‚Gezählte Tage‘ Italiens neueste nukleare Entsorgungspläne.
Übersetzung: Carola Dinklage
10.2.
No Border – Literatur als Waffe
Behrouz Boochani, Tima Kurdi, Parwana Amiri, Pia Klemp, Andreas Blechschmidt, Renan Demirkan
Sternstunde der Literatur: Selten berührten Autorentexte in neun Festivaljahren so wie an diesem Abend – wenn gar die erfahrene Schauspielerin Renan Demirkan ihre Rezitation vor Ergriffenheit mehrfach unterbrechen muss.
Es sind einzigartig einfühlsame Texte, geschrieben von Geflüchteten in Internierungslagern: „Ich habe jede Nacht geschrieben, um meinen Schmerz zu bewältigen“, sagt die afghanische Autorin Parwana Amiri – live zugeschaltet aus einem Wohncontainer, in dem sie nahe Athen mit ihrer Familie ausharren muss. „Ich erzähle nicht die Geschichte vom ‚Jungen am Strand‘, sondern vom Leid der Menschen“, ergänzt Tima Kurdi, Tante des Zweijährigen Alan, der auf der Flucht in der Ägäis ertrunken war und ans Ufer gespült wurde. Bestseller-Autor Behrouz Boochani, sechs Jahre auf einer australischen Insel interniert, reflektiert live aus Neuseeland: „Literatur ist nicht nur Unterhaltung – es ist die wirkungsmächtigste Sprache, um das System anzugreifen.“
Übersetzung: Astrid Geese
11.2. – Tag 4
System Change – Gegen den BurnOut des Planeten
Vandana Shiva, Graeme Maxton, Mojib Latif, Hanna Poddig, Sebastian Bezzel
Um nicht weniger als die „Revolution“ ging es – als vier kluge Köpfe in drei Zeitzonen über die existenziellen Herausforderungen unserer Tage laut nachdachten: Inspiriert von präzisen Anregungen der deutschen Autorin Hanna Poddig verständigten sich Klimaforscher Mojib Latif, Globalisierungskritikerin Vandana Shiva und Ex-Club-of-Rome-Generalsekretär Graeme Maxton, dass nur eine systemische Disruption den Planeten retten kann. „Das kapitalistische Wirtschaftsmodell der Akkumulation und Destruktion überwinden, zugunsten von Teilen und Geben“, mahnte Shiva. Dafür gelte es, so Latif, „von erfolgreichen Revolutionen zu lernen, um in Jedem die Vision einer neuen, besseren Welt zu wecken“. Für Maxton braucht es viel mehr als einen „Aufstand“ gegen das „von Lobbyisten korrumpierte demokratische System“. Das sei längst zusammengebrochen: „Wir müssen es für uns zurückerobern!“
Übersetzung: Astrid Geese
11.2.
Pandemie der Zerstörung – Die KlimaschMutzlobby
Annika Joeres liest aus ihrem Bestseller – und diskutiert mit Zuschauern
(zu sehen hier – realisiert vom Bundesverband Windenergie/Schleswig-Holstein)
12.2. – Tag 5
Free Speech – Free Assange
Herta Däubler-Gmelin, Nils Melzer, Joseph Farrell, Günter Wallraff, Georg Restle, Mariele Millowitsch
Es war ein Tribunal: Für die Freiheit von Julian Assange!
Just an dem Tag, als US-Präsident Biden entschied, die Auslieferung jenes Enthüllungsjournalisten weiter zu betreiben, der den Staatsterrorismus des „US-Empire“ durch unzählige Dokumente entlarvt hatte. Dafür wird Assange „gefoltert“, prangert der Schweizer UN-Botschafter Nils Melzer an. Assanges engster Vertrauter, WikiLeaks-Sprecher Joseph Farrell, beschrieb die Haftbedingungen von Assange als „Guantánamo von Großbritannien“. Einer „gangsterhaften Verschwörung von Staaten geht es einzig darum, den Journalisten zu brechen“, so Melzer. „Mit einer vom CIA lancierten Rufmordkampagne und Psychofolter“ solle erreicht werden, dass kein Autor künftig mehr wage, Ähnliches zu tun, sagt Bestseller-Autor Günter Wallraff. Dabei halte Großbritannien Assange „ohne jeden Rechtsgrund in Gefangenschaft“, konstatiert Herta Däubler-Gmelin. Für die Ex-Bundesjustizministerin ist es „eine Schande, dass EU-Länder kein Asyl für Assange anbieten“.
Übersetzung: Astrid Geese
13.2. – Tag 6
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen: NSU2.0
Michel Abdollahi, Heike Kleffner, Rafael Behr, Dirk Laabs, Idil Baydar
Die etablierten rechtsradikalen Strukturen in der deutschen Polizei reichen bis in höchste Ebenen – mit der Folge alltäglichen ‚Racial Profilings‘ und regelmäßigen Morddrohungen aus dem Apparat gegen migrantische Bürger. TV-Conferencier Michel Abdollahi berichtet, permanent von Zivilpolizei kontrolliert zu werden, anlasslos. Comedian Idil Baydar wird seit Jahren mit Todesdrohungen überzogen, ihre Kontaktdaten entstammen nachweislich internen Polizeidateien: „Es wurde nie versucht, die Täter zu finden, trotz anhaltender Bedrohung.“ Die Autoren Heike Kleffner und Dirk Laabs weisen minutiös nach, dass die ideologische Grundkonstante dieser Übergriffe die Leugnung des Holocaust ist: „Die Freunde und Helfer sind Freunde und Helfer der Täter.“ In Sonntagsreden beschriebene „Lehren aus dem NSU“ gebe es nicht. Rafael Behr, Professor an der Polizeiakademie, attestiert als ursächlich „Reflexions-Abstinenz“ – wobei neu sei, dass dieser „Closed Shop“ bis in die Führungsebene bestehe.
14.2. – Tag 7
10 Jahre Fukushima – 75 Jahre Hiroshima: No Nukes
Naoto Kan, Kenichi Hasegawa, Akira Kawasaki, Fumiko Hashizume, Wieland Wagner, Stephan Schad
Die Dramaturgie war fast beängstigend: Wenige Stunden vor der Veranstaltung zum 10. Fukushima-Jahrestag bebte in Fukushima die Erde – und während die Welt gebannt nach Japan schaut, ist bei ‚Lesen ohne Atomstrom‘ umgehend Japans Ex-Premier Naoto Kan live zu Gast, ordnet exklusiv ein: „Die Stellungnahme ‚Alles unter Kontrolle‘ halte ich für komplett falsch.“ Nach Einschätzung Kans – Regierungschef beim Fukushima-GAU 2011 – gibt es aber „offenbar keine neuen Schäden an der Reaktorruine. Es wird jedoch viel verstrahltes Wasser ins Meer geleitet und das gelangt auch in die Umgebung.“
Bei der Matinee kamen auch Zeitzeugen zu Wort – Fumiko Hashizume, die vom Atombombenabwurf auf Hiroshima schwer verletzt wurde, und der frühere Fukushima-Landwirt Kenichi Hasegawa. Dessen Schilderung über die Vernichtung seiner Existenz durch den GAU berührte Staatsmann Kan sehr: „Unsere Regierung hat damals viel zu spät reagiert – und das hat solche Katastrophen wie bei Herrn Hasegawa verursacht. Es tut mir sehr leid!“
Der Ex-Premier verwies vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse auch auf die Dramatik vor zehn Jahren: „Es ging um die Frage, ob Japan weiter als Land existieren kann.“
Gemeinsam mit dem ebenfalls aus Tokio zugeschalteten Akira Kawasaki – Vorstand des Friedensnobelpreisträgers ICAN, der weltweiten Abrüstungskampagne – sorgt Kan sich, dass Japan mit den angehäuften 46 Tonnen Plutonium nach der Atombombe strebe.
Übersetzung: Mai Rapsch und Makoto Takeda
14.2.
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen: Saal 101
Katja Bürkle, Michael Prelle, Michael Rotschopf, Katarina Agathos, Michael Farin
Exklusive Kultur zum Finale:
Eine eigens arrangierte Bühnenfassung der monumentalen ARD-Hörspielproduktion ‘Saal 101’ über den Prozess gegen die Rechsterroristen des ‘Nationalsozialistischen Untergrund’ (NSU) schloss das Festival – noch im Vorfeld der bundesweiten Radiopremiere. Aus den Mitschriften von Verfahrensbeobachtern inszenierte Regisseur Michael Farin eine außerordentliche Performance großartiger Darsteller.
Aus lizenzrechtlichen Gründen ist der Livestream nicht dauerhaft abrufbar. Empfehlenswert ist das Dokumentarhörspiel in der ARD-Mediathek.
Das Programm ’21 | ||
8.2. | Final Century? – Zeit für die Revolte! Donatella Di Cesare, Dennis L. Meadows, Lord Martin Rees, Ole von Uexküll, Walter Sittler/Barbara Auer |
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9.2. | Io sono persona – Die Grenzen niederreißen Leoluca Orlando, Abdullah & Tima Kurdi, Pia Klemp, Emily Laquer, Katja Riemann/Rolf Becker |
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10.2. | Der Sieg des rationalen Menschen – Von der Mafia- zur Kulturmetropole Leoluca Orlando & Wolf Gaudlitz gucken ihren preisgekrönten Film ‚Gezählte Tage‘ – und erinnern sich. |
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10.2. | No Border – Literatur als Waffe Behrouz Boochani, Tima Kurdi, Parwana Amiri, Pia Klemp, Andreas Blechschmidt, Renan Demirkan |
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11.2. | System Change – Gegen den BurnOut des Planeten Vandana Shiva, Graeme Maxton, Mojib Latif, Hanna Poddig, Sebastian Bezzel |
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11.2. | Pandemie der Zerstörung – Die KlimaschMutzlobby Annika Joeres liest aus ihrem Bestseller – und diskutiert mit Zuschauern |
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12.2. | Free Speech – Free Assange Herta Däubler-Gmelin, Nils Melzer, Joseph Farrell, Wolfgang Neskovic, Günter Wallraff, Georg Restle, Mariele Millowitsch |
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13.2. | Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen: NSU2.0 Michel Abdollahi, Heike Kleffner, Matthias Meisner, Rafael Behr, Dirk Laabs, Idil Baydar |
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14.2. | 10 Jahre Fukushima – 75 Jahre Hiroshima: No Nukes Naoto Kan, Kenichi Hasegawa, Akira Kawasaki, Fumiko Hashizume, Wieland Wagner, Rainer Bock/Stephan Schad |
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14.2. | Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen: Saal 101 Exklusive Bühnenfassung des ARD-Hörspiels zum NSU-Prozess Michael Prelle/Thomas Thieme, Katja Bürkle, Michael Rotschopf, Katarina Agathos, Michael Farin |