6. Erneuerbare Lesetage – 2016
„Atom-Drehkreuz Hafen Hamburg – Jetzt sperren!“ (Naoto Kan)
Rund um den 5. Jahrestag der Reaktorexplosion in Fukushima und den 30. Jahrestag des Super-GAU von Tschernobyl demonstrierten im März und April 2016 mehr als zwei Dutzend Autoren, Künstler und 3.000 Zuschauer in Hamburg für die Beschleunigung des Atomausstiegs – mit exklusiver Kultur: Katja Riemann, Axel Milberg, Yared Dibaba, Mathieu Carrière, Mojib Latif, Michel Abdollahi, Doris Gercke, Feridun Zaimoglu, Rolf Becker, Katja Petrowskaja, Bela B. und viele mehr. Aus Tokio war Japans Ex-Premier Naoto Kan gekommen, aus Nairobi Auma Obama, aus Paris Beate Klarsfeld.
Insgesamt sind in sechs Jahren 233 Schriftsteller und Künstler für ‚Lesen ohne Atomstrom‘ aufgetreten – vor 22.461 Zuschauern.
Impressionen 2016
27. April – Tag 7
Literarisch außerordentlich hochwertiges Finale von ‚Lesen ohne Atomstrom 2016‘ – in Kooperation mit dem Goethe-Institut: In einem der charmantesten Literaturhäuser der Stadt, dem Theatersalon 2te Heimat, beendeten Katja Petrowskaja und Feridun Zaimoglu die sechste Ausgabe von Hamburgs unabhängigem Literaturfestival – mit überaus atmosphärischen Lesepassagen aus ‚Vielleicht Esther‘ und ‚Siebentürmeviertel‘. Andrea Jacob, Hamburg-Chefin des Goethe-Instituts: „Jüdische Familiengeschichten wie die von Petrowskaja gibt es zwar ungezählte, aber ich bin sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie sie mit der deutschen Sprache umgeht, zumal sie erst im Erwachsenenalter unsere nicht ganz einfache Sprache gelernt hat. Zaimoglu beeindruckte durch seine starke rhythmische Präsentation der ausgewählten Passagen, unterstützt durch seine Gestik.“
Das Zuschauerinteresse war wie in allen anderen Veranstaltungen wieder groß – nicht nur alle Hörplätze waren belegt, einigen Interessierten blieben nur Stehplätze im Foyer. Feridun Zaimoglu, der als allererster Schriftsteller 2011 bei ‚Lesen ohne Atomstrom‘ aufgetreten ist, resümierte: „’Lesen ohne Atomstrom‘ ist unglaublich wertvoll, nicht zuletzt weil es einzigartig unabhängig ist. So etwas gibt es nirgends. Wir alle gemeinsam – Autoren, Künstler, Organisatoren, Zuschauer – müssen dieses einzigartige Literaturfest dauerhaft sichern.“
26. April – Tag 6
Mucksmäuschenstill war es im vollbesetzten Saal der Akademie der Künste, als Helene Grass und Bela B. aus der Novelle ‚Im Krebsgang‘ rezitierten, das Leid der Menschen beim Untergang des Flüchtlings-Schiffs Wilhelm Gustloff Ende des Zweiten Weltkrieges gegenwärtig werden ließen. Gemeinsam mit Filmstar Katja Riemann lasen die Schauspielerin und der Rockstar aus Romanen, Gedichten, Novellen und Wahlkampfreden des ‚Lesen ohne Atomstrom‘-Mitbegründers Günter Grass, in denen der Nobelpreisträger Migration und Flucht thematisiert – eine exklusive Textcollage, eigens arrangiert für ‚Lesen ohne Atomstrom‘ zum 30. Jahrestag des Super-GAU von Tschernobyl.
Die drei Künstler hatten sich bereits zuvor gegen die Abschottungspolitik der EU positioniert: Bela B. las in der Akademie aus einem Brief von Günter Grass, den dieser 1992 an den damaligen SPD-Vorsitzenden Björn Engholm gerichtet hatte – um seinen Austritt aus der SPD in Folge der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl zu begründen. Dabei patzte Bela B. – vermeintlich: in dem er aus dem ‚Lieben Björn‘ den ‚Lieben Olaf S.‘ machte – Hamburgs Bürgermeister Scholz präseniert sich von jeher als Hardliner in der Flüchtlingsfrage und plädiert für rigorose Abschiebungen. Generell ein Markenzeichen der Hamburger SPD, die sich bereits in den 90er Jahren rühmte, „mehr als Bayern abzuschieben“.
Die 326 Zuschauer in der überfüllten Akademie applaudierten immer wieder spontan zwischen den Lesepassagen, feierten die Künstler abschließend begeistert.
25. April – Tag 5
Widerstand kann richtig Spaß machen: Slamer und Plattdeutsch-Stars haben gemeinsam mit 502 Zuschauern am Vorabend des 30. Jahrestags der Explosion des Atomreaktors von Tschernobyl ein deftiges Zeichen gegen die Atommafia gesetzt. Es waren wieder mal zwei exklusive Programme, die die Künstler eigens für ‚Lesen ohne Atomstrom‘ arrangiert haben – und die es so nicht wieder zu sehen gibt: Vier der besten Poeten des Landes slamten mit Michel Abdollahi in der vollbesetzten Fabrik den ‚1. Slam ohne Atomstrom‘. Das coole und gemeinsame Resumee der Kontrahenten: „Atomkraft? Nee Du, lass mal!“
Beim gleichzeitigen Törn durch das Fahrwasser der Hamburg regelmäßig anlaufenden Atomfrachter bürsteten die Plattdeutsch-Stars Yared Dibaba, Jochen Wiegandt und Werner Momsen unter sachkundiger Anleitung von Bauer Hader, alias Alma Hoppes Nils Loenicker, zwei Stunden das Niederdeutsche gegen den Strich – und strapazierten die Lachmuskeln der 153 Zuschauer auf der bis auf den letzten Platz besetzten ‚MS Commodore‘ aufs Äußerste.
Die ‚Lesen ohne Atomstrom‘-Yacht wurde unmittelbar nach ihrem Ablegen an den Landungsbrücken von vier Greenpeace-Schlauchbooten die Elbe hinunter begleitet. Das wiederum rief die Wasserschutzpolizei auf den Plan, die sodann den renitenten Plattdeutsch-Dampfer vorweg und hinteran mit zwei Einsatzschiffen eskortierte. Bauer Hader sorgte sich: „Sind das Piraten? Werden wir jetzt angegriffen?“
24. April – Tag 4
Krimigipfel und philosophische Gedanken zum menschlichen Dasein: Auch an Tag 4 von ‚Lesen ohne Atomstrom 2016‘ waren die Theater voll, begeisterten Autoren und Schauspieler 567 Zuschauer.
Mit Hamburgs Krimi-Bestsellern Doris Gercke, Simone Buchholz, Wolfgang Metzner und Frank Schulz wurde das trendige ‚Schmidtchen‘ als Literaturlocation eingeweiht. Zur besten ‚Tatort‘-Zeit faszinierte anschließend Axel Milberg – der seinen einzig freien Abend bei den aktuellen Dreharbeiten zum neuen Kieler ‚Tatort‘ für ‚Lesen ohne Atomstrom‘ zur Verfügung stellte – mit Texten seines Freundes Henning Mankell. Empfindsame Beobachtungen, die Mankell noch kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Eine überaus intensive Lesung, die die Zuschauer spürbar gefangen nahm – man hätte in den von Milberg dramaturgisch gekonnt gesetzten Pausen die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können.
23. April – Tag 3
„Sein Gesicht zu sehen war wunderbar.“ So erinnerte sich Beate Klarsfeld am Abend des UN-Welttag des Buches in Hamburg an jenen historischen Augenblick vor bald 50 Jahren, als sie NSDAP-Mitglied und Bundeskanzler Kiesinger eine schallende Ohrfeige verpasst hatte. Es war der Auftakt zu einer weltweiten Jagd auf die Schergen des Holocaust. Tief beeindruckend ließ Beate Klarsfeld im vollbesetzten Metropolis-Kino im Gespräch mit TV-Journalistin Luc Jochimsen ein halbes Jahrhundert Revue passieren, indem sie und ihr Mann Serge die Organisatoren des von Deutschland organisierten Massenmords in allen Winkeln der Welt aufspürten – und ihr Vorgehen dem jeweiligen Ziel anpassten: „Man muss die Wahl der geeigneten Mittel immer wieder neu entscheiden: Das kann eine Waffe sein, eine Scheibe einwerfen oder eine Entführung.“ Mit Letzterem, der privaten Festnahme von NS-Tätern, deren Auslieferung viele Staaten verweigerten, waren die Klarsfelds weniger erfolgreich – wie Beate Klarsfeld bedauernd feststellte: „Wir waren in sowas ja keine Profis.“
Mit dem Auftritt von Beate Klarsfeld bei ‚Lesen ohne Atomstrom‘, der Deutschland-Premiere des Buches ‚Erinnerungen‘, hinterlegte die weiter permanent um die Welt reisende 77-Jährige auch sowas wie ein Vermächtnis: „Man muss sich engagieren. Auch wenn es manchmal nicht leicht ist, man bedroht wird: Man muss seinem Gewissen folgen.“
22. April – Tag 2
Der enorme Zuschauerzuspruch bei ‚Lesen ohne Atomstrom‘ wird immer mehr zum zivilgesellschaftlichen Statement für ein qualifiziertes Kulturverständnis – ein grundlegend anderes Kulturverständnis, als es Hamburgs Senat eigen ist, der die Gestaltung des städtischen Kulturprogramms einzigartig ideenlos maßgeblich Sponsoren jeglicher Couleur überlässt.
Am zweiten Tag des diesjährigen Festivals waren erneut nicht nur alle verfügbaren Plätze im Museum für Völkerkunde und auf dem Museumsschiff Cap San Diego besetzt – wie schon bei den Auftritten von Japans Ex-Premier Naoto Kan und Auma Obama wurden auch Stehplätze klaglos akzeptiert: um die Auftritte von Mojib Latif, Monika Griefahn, Frank Schweikert, Henning Kiehn, Rolf Becker, Stephan Schad und Matthieu Carrière live mitzuerleben.
Latif, Griefahn und Schweikert plädierten im Hafen für eine Verstärkung der internationalen wie lokalen Anstrengungen zum Schutz der Weltmeere, in Hamburg ist dafür von Privatpersonen in diesem Jahr eigens die Deutsche Meeresstiftung gegründet worden.
Das prominente Schauspieler-Trio Rolf Becker, Stephan Schad und Matthieu Carrière entführte gemeinsam mit den begeisternden musikalischen Darbietungen von Bassist und Sänger Henning Kiehn bei der bundesweit ersten konzertanten Lesung des Bestsellers ‚Inside IS‘ die gebannt folgenden Zuhörer in den Alltag des ‚Islamischen Staat‘. Zum Finale wurden die Künstler von den Zuschauern immer wieder auf die Bühne geklatscht.
21. April – Die Eröffnung
Der Start von ‚Lesen ohne Atomstrom 2016‘ war ein ernster und gleichsam überaus fröhlicher Abend: Die kenianische Autorin Auma Obama las und diskutierte eloquent, engagiert und charmant. Zentrales Thema war die aktuelle Flüchtlingsdebatte, bei der Obama Europa um größeres Verständnis für die Schutzsuchenden bat: „Kein Mensch verlässt freiwillig sein Land.“ Obama forderte Europa zu einer Abkehr von seiner Abschottungspolitik auf: „Es braucht Druck, damit alle mitmachen.“ Und die prominente Rednerin betonte den Charakter von Integration: „Von den Flüchtlingen ist Integration zu verlangen, aber keine Assimilation. Wenn man seine eigene Kultur verliert, verliert man seine Identität.“ Zu ihrem Bruder, dem US-Präsidenten, sagte Auma Obama nur: „Wir sind ständig in Kontakt. Wir stehen uns sehr nahe. Mit meiner Arbeit hat Barack aber nichts zu tun.“ Auch bei der Eröffnung der nun schon sechsten Ausgabe von ‚Lesen ohne Atomstrom‘ betrug die Auslastung in der Laeiszhalle wieder weit über hundert Prozent – kein Platz blieb frei, hundert Zuschauer konnten wegen Überfüllung nicht mehr eingelassen werden.
23. März – Der Prolog
„Gleich zum Einstieg liefern Sie hier eine beeindruckende Demonstration für ein grundlegend anderes Kulturverständnis in Hamburg“, wandten sich die ‚Lesen ohne Atomstrom‘-Moderatoren Oliver Neß und Frank Otto zur Begrüßung an die Zuschauer. Denn: Beim Festivalstart am 23. März gab es eine Auslastung von 300 Prozent – das ist bislang unerreicht. 603 Zuschauer feierten im Museum für Völkerkunde Japans Ex-Premierminister Naoto Kan fast wie einen Popstar – als dieser rigoros das Ende der Atomkraft forderte, weltweit. Und Japans ehemaliger Regierungschef bekräftigte die Forderung an die Stadtregierung, das Atom-Drehkreuz Hafen zu sperren: „Wenn Hamburg kurzfristig Atomtransporte über seinen Hafen verbieten würde, wäre das ein starkes Zeichen. Ich danke ‚Lesen ohne Atomstrom‘ sehr, dass ich hier sprechen durfte.“
Atom-Drehkreuz Hamburger Hafen – jetzt sperren!
Das Programm 2016 | ||
23.März | Als Premierminister während der Fukushima-Krise: Naoto Kan, Monika Griefahn, Jean Ziegler |
Museum für Völkerkunde |
21.4. | Das Leben kommt immer dazwischen: Auma Obama, Rainer Burchardt |
Laeiszhalle – Studio E |
22.4. | Inside IS – Die konzertante Lesung: Mathieu Carrière, Henning Kiehn, Rolf Becker, Stephan Schad |
Museum für Völkerkunde |
22.4. | Das Ende der Ozeane: Mojib Latif, Frank Schweikert, Monika Griefahn |
Cap San Diego |
23.4. | Erinnerungen – für die Zukunft: Beate Klarsfeld, Serge Klarsfeld, Luc Jochimsen |
Metropolis Kino |
24.4. | Kiez & Crime: Frank Schulz, Doris Gercke, Wolfgang Metzner, Simone Buchholz |
Schmidtchen |
24.4. | Treibsand: Axel Milberg liest Henning Mankell |
Schmidt Theater |
25.4. | Atomkraft? Nee Du, lass mal! – Der Slam: Kampf der Künste, Michel Abdollahi |
Fabrik |
25.4. | Plattdeutsch auf dem Strom: Yared Dibaba, Jochen Wiegandt, Werner Momsen, Nils Loenicker |
MS Commodore Landungsbrücken, Brücke 9 |
26.4. | Migration und Flucht im Werk von Günter Grass: Helene Grass, Katja Riemann, Bela B. |
Freie Akademie der Künste |
27.4. | Sprachliche Migration: Katja Petrowskaja, Feridun Zaimoglu |
2te Heimat |
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